Interdisziplinäre Anthropologie und Bioethik

Das Paradigma der Verkörperung hat weitreichende Konsequenzen für ethische Problemfelder im Bereich der Biomedizin, die mit dem Verhältnis von Person und Körper zu tun haben.

1) Theorien personaler Persistenz nehmen zu der Frage Stellung, was die Konstanz und Identität einer Person über ihre wechselnden Zustände hinweg ausmacht. Die gegenwärtig dominierenden Konzeptionen beruhen auf der psychologischen Kontinuität: Danach sind autobiographische Erinnerung und Selbstzuschreibung die notwendigen Voraussetzungen für personale Kontinuität; hat ein Mensch die entsprechenden Fähigkeiten unwiderruflich verloren, so büßt er den Personen-Status ein und muss konsequenterweise als eine "Post-Person" o.ä. bezeichnet werden. Dies trifft etwa für Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz zu, die sich nicht mehr an biographische oder andere zentrale persönliche Daten erinnern können.

Ein auf der Verkörperung basierender Personenbegriff sieht hingegen die entscheidende Basis für personale Kontinuität im fortdauernden Lebensprozess des Organismus. Dem entspricht auf der subjektiven Ebene die Kontinuität des präreflexiven Selbsterlebens, das primär im Leib fundiert ist und sich im Leibgedächtnis manifestiert. Der schwer Demenzkranke ist noch immer Person, weil seine Grunderfahrung von Leiblichkeit und Lebendigkeit mit ihren impliziten Vertrautheiten (Stimmen, Melodien, Geruch, Geschmack, Berührung, o.ä.) prinzipiell bis zum Tod erhalten und ansprechbar bleibt.

2) Verfahren des pharmakologischen Neuro-Enhancement oder noch weiter gehender technischer Eingriffe in das Gehirn zentrieren sich auf ein einzelnes Organ, das als Substrat von Selbstsein, Bewusstsein und Personalität angesehen wird. Das Konzept der Verkörperung betrachtet das Gehirn dagegen als eingebettet in den Organismus und in ökologische Zusammenhänge, die ihrerseits auf neuronale Prozesse und Strukturen prägend zurückwirken. Damit werden auch Krankheiten nicht nur als lokalisierbare Defekte angesehen, sondern in einem systemisch-ökologischen Kontext interpretiert. Die Frage, ob eine Person ihre Fähigkeiten oder auch ihre Störungen bzw. Krankheiten auf direktem Weg über das Gehirn beeinflussen soll, oder ob veränderte, verkörperte und interaktive Erfahrungen mit ihrer Umwelt für sie die bevorzugte Möglichkeit der Veränderung darstellen, ist für Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie und Medizin von zentraler ethischer Bedeutung.

Das Projekt wird anhand dieser Fragestellungen untersuchen, ob und inwiefern eine neue, auf der verkörperten Subjektivität und Intersubjektivität basierende Anthropologie klassische ethische Problemstellungen unter einem neuen Gesichtspunkt erscheinen lassen und so zu einer differenzierten Politikberatung beitragen kann.

Seitenbearbeiter: Geschäftsstelle
Letzte Änderung: 06.11.2013
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