Arbeitsvorhaben PD Dr. Martin Gessmann
Das Kino als moralische Anstalt? Simulation und Stimulation als hirnphysiologischer Prozeß und philosophisches Problem
Das Projekt zielt auf eine experimentelle Verbindung von Ethik und Hirnphysiologie mit Hilfe der neuesten Filmtheorie. Die Ethik hat seit der Antike als Reaktion auf philosophische Idealismen nach einer Einbettung menschlichen Handelns in natürliche Prozesse gesucht, die menschliche Rationalität im Handeln nicht abstrakt, sondern im handlungsrelevanten Kontext erscheinen läßt. Im 20. Jh. hat die philosophische Anthropologie unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Fortschritte in der Biologie und Psychologie neue, weitreichende Begründungsversuche unternommen. Angesichts der jüngsten Entwicklungen in den Lebenswissenschaften erscheint eine Bewertung klassischer ethischer Fragen auf einem bisher ungekannten Niveau der physiologischen Konkretion möglich.
Bei der Hirnphysiologie ist auszugehen von den Forschungen zur Kognition des Menschen mittels der Spiegelneuronen („mirror neurons“). Mit ihrer ‚Spiegelungsfunktion’ erscheint ein unmittelbarer Nachvollzug von äußerlich angeschauten Gesten und Reaktionen des einen Menschen im Gehirn eines anderen möglich. Bisher wurde die Einsicht in die Funktion der Spiegelneuronen für spezielle ethische und pädagogische Debatten um psychische wie kognitive Deformationen genutzt und populär gemacht. Besonders mögliche Gefährdungen durch Gewaltdarstellungen wurden diskutiert. Das Projekt unternimmt demgegenüber den Versuch, den ethischen Normalfall zu beschreiben und die Urteilsfindung im Rahmen von Hirnaktivitäten wie jener der Zielkonzeption als Handlungsvorstellung, der Konzeption der Handlungsausführung, ihrer somatischen wie psychischen Folgenabschätzung und Kalkulation der Begleiterscheinungen als Wechselbeziehungen mit der psycho-physischen Umwelt zu bewerten.
Als Brückendisziplin wird die Filmtheorie
herangezogen, weil sie 1.) auf der Seite der Geisteswissenschaften die Analyse
von filmischer Darstellung menschlicher Handlungen erlaubt und einen
methodischen Rahmen der Interpretation im Sinne der Phänomenologie und der
Hermeneutik bereitstellt; 2.) in Kombination mit den Annahmen der
Spiegelneuronenforschung Möglichkeiten experimenteller Überprüfung der ethisch
veranschlagten Sinnannahmen eröffnet. Die Fragestellung konzentriert sich dabei
auf das Ausgangsverhalten wie das mögliche Lernverhalten in der Reaktion auf
filmische Darstellungen von Handlungen. Zu untersuchen ist, ob sich in
Anlehnung an die Aristotelische Dramentheorie Grundmuster ethischer Bewertung
von menschlichen Grenzsituationen nachweisen lassen, die als eine Form existenziellen
Alarms mit der Folge einer Bestätigung ethischer Grundnormen erscheint. Weiter
ist zu fragen, inwieweit es sich dabei um universelle Menschheitsnormen
handelt, wie es noch die Aufklärung für die Frage des Mitleids unter Menschen
angenommen hat, oder inwiefern ‚immer schon’ von einer Kulturabhängigkeit
auszugehen ist. Schließlich wird von besonderem Interesse die Möglichkeit der
Veränderung grundsätzlicher ethischer Dispositionen erscheinen, die im Sinne
der Hermeneutik als eine Form von Horizontverschmelzung und –verschiebung
gedacht werden könnte.