Bereichsbild

Arbeitsvorhaben Prof. Dr. Hans-Jürgen Pirner

Unbestimmtheit, Information und Entscheidung

 

1. Vorarbeiten

Das Arbeitsvorhaben basiert auf Vorarbeiten der Arbeitsgruppe "Vagueness-Unbestimmtheit", die von A. Kemmerling gestartet wurde. In dieser Gruppe haben wir folgende Beiträge untersucht: Objektive Unbestimmtheit von A. Kemmerling (Philosophie), Unbestimmtheits-Phänomene in den Rechtswissenschaften von W. Brugger (Jura), Zur Rechtsphilosophie von Herbert Hart von M. Anderheiden (Jura), Mit Unbestimmtheit rechnen von H. Pirner (Physik), Clausewitz´sche Friktionen - Über strukturelle Unschärfe im Planungsprozess von J. Funke (Psychologie), Arten von Unbestimmtheit von T. Schöne (Philosophie), Einführung in die fuzzy Logik von M. Majster-Cederbaum (Computerwissenschaft).

In meinem Beitrag zur Unbestimmtheit habe ich versucht zu zeigen, welche Arten von Unbestimmtheit es in der Physik gibt und wie man Unbestimmtheit berechenbar macht. Experimentelle und systematische Fehler können Unbestimmtheit verursachen, die in eine detaillierte statistische Analyse eingehen. Auch in den Geisteswissenschaften ist die Unschärferelation der Quantentheorie bekannt. Die quantenmechanische Unbestimmbarkeit ist in der Natur begründet und nicht von der Qualität unserer Messapparaturen abhängig. Neben der faktischen Unbestimmtheit gibt es theoretische Unbestimmtheit. Statistische Modelle der Physik gehen von im Detail unbestimmten Mikrozuständen aus, die ein statistisches Ensemble bilden, welches nur durch ein paar makroskopische Zustandsgrößen definiert ist.

Große Unbestimmtheiten existieren bei der Beschreibung von biologischen oder ökonomischen Systemen mit mathematischen Methoden. Diese sollen im Detail studiert werden. Man benutzt Differentialgleichungen mit zufälligen externen Kräften, um komplexe biologische oder ökonomische zu beschreiben. Diese Zufalls-"Kräfte" mögen wirtschaftlichen Krisen oder klimatische Katastrophen sein. Im Bestreben, so viel wie möglich über unsere Umwelt zu lernen, hat die mathematische Beschreibung einen Grenzbereich erreicht, welcher eine detaillierte Untersuchung verdient.

 

2. Wie können wir die Behandlung der Unbestimmtheit besser studieren, was können wir daraus lernen?

Eines der Hauptprobleme der Philosophen scheint folgendes Problem zu sein: Ich zitiere aus dem Cambridge Dictionary of Philosophy: (i) "to give an adequate characterization of what the phenomenom (of vagueness) is and (ii) to discuss our ability to reason with this term".

Unsere Diskussion zur Unbestimmtheit hat zum Teil schon den ersten Punkt erhellen  können, was Unbestimmtheit in der Physik ist. Wie kann Unbestimmtheit reduziert werden? Kann man Unbestimmtheit kategorisieren? Existieren theoretische Modelle, Grenzen der Bestimmtheit zu definieren? Insbesondere die Vorträge aus den Sozialwissenschaften haben uns darauf aufmerksam gemacht, zu fragen, welche Methoden der Entscheidung bei der Reduktion von Unbestimmtheit existieren. Neben der erkenntnistheoretischen Einsicht, die sich daraus ergeben mag, verspreche ich mir für mein eigenes Fach einen neuen Ansatz zur Naturphilosophie. M. Webers Feststellung der "Entzauberung" der Welt durch die Naturwissenschaft und Technologie ist im Licht der Physik des 20. Jahrhunderts fragwürdig geworden. Der Nobelpreisträger Prigogine spricht gerade im Gegenteil von "Reenchantment" der Natur. Anstatt der präzisen mechanischen Naturbetrachtung des 19. Jahrhunderts stellt er eine vage, fuzzy und weiche Physik in Aussicht. Diesen Standpunkt lohnt es zu hinterfragen. Dies geschieht am besten dadurch, indem man Grenzgebiete der Physik (Umweltphysik, Biophysik, Ökonophysik) untersucht, die als charakteristische Beispiele für dieses neue Entwicklung dienen. Dies ist am besten im interdisziplinären Gespräch möglich.

 

3. Praktisches Vorgehen

In der pragmatischen Vorgehensweise ist sicher der Stellenwert eines unbestimmten Ergebnisses im Zusammenhang mit dem physikalischen Modell oder der Theorie wichtig. Es gibt unbestimmte Ereignisse, die in ihrem Wert nicht dringend zu verbessern sind. Besonders zu betonen ist die verantwortliche Position des Wissenschaftlers, der eine Schlüsselposition als Entdecker neuer Phänomene hat, wenn die Ausgangslage dunkel ist. Oft weiß er nicht genau, was er nicht weiß, d. h., was er erforschen sollte. Wie wertvoll sind neue Informationen, die die existierende Unbestimmtheit beheben können. Ein neuer Ansatz in der Informationstheorie mag erlauben, der Information Wertigkeit zuzuordnen, zuerst in einem allgemeinen Zusammenhang, dann aber auch mikroskopisch modellierbar, z. B. an wirtschaftswissenschaftlichen Beispielen.

In der Physik ist der Begriff des Atomgewichts nichts Unbestimmtes, das Ergebnis aber ergibt unkategorisierbare Grenzfälle, z. B. nicht ganzzahlige Vielfache des Atomgewichts von Kohlenstoff. Man muss eine neue Kategorie finden, in diesem Fall die Kategorie "Neutronenzahl", um die unbestimmten Unterschiede erklären zu können. Bei Zufallsmatrizen führt man Symetrieklassen ein, welche ähnlich beobachtbare Phänomene produzieren. Ebenso ist in der Modellierung von biologischen Systemen die Absicht zu sehen, generische Modellklassen zu finden, welche ohne Kenntnis der individuellen Parameter Erklärungsmuster finden können. Analog zum erfolgreichen Vorgehen der Quantenmechanik, ist die moderne Physik bestrebt, sich der strukturellen Unbestimmtheiten bewusst zu werden. Die Erhellung solcher faktischer Unbestimmtheit führt zu einer Theoriebildung, die sich als ungeheuer fruchtbar erwiesen hat. Bei der theoretischen Arbeit zur Unbestimmtheit von Raum und Zeit liefert die nicht kommunikative Geometrie eine Struktur, die auf Grund dieser Unbestimmtheit weitere andere theoretische Konsequenzen, z. B. über schwarze Löcher und ihre Entwicklung vorhersagt. In den an die Physik grenzenden Ingenieurwissenschaften ist häufig das Problem anzutreffen, dass Maschinen Entscheidungen treffen müssen, deren Ausgangslage unklar ist. Die "fuzzy" Logik konstruiert gewichtete Aussagen, die in jedem Fall zu Entscheidungen führen. Es soll untersucht werden, inwieweit das Aufsuchen von Entscheidungen formalisiert werden kann und welche Rolle dabei so genannte Expertensysteme spielen. Die analytische Philosophie lehnt sich stark an die Mengenlehre an (auch hier gibt es fuzzy sets), berücksichtigt wenig die neuere mathematische Formulierung von Netzwerken mit Begriffen wie Connectedness, Neighbourhoods etc. Theorien dienen als Umschlagplätze von Konzepten, deren Funktionen sich nicht auf Prädikate reduzieren lassen, welche mengentheoretisch erfassbar sind. Wie fruchtbar neue Informationen sich erweisen, zeigen die Zusammenhänge, in denen sie mit anderen stehen. Lange Zeit galt als das Paradigma erfolgreicher Wissenschaft, dort zu suchen, wo schon viel Licht hingefallen ist. Daraus ist die Mega-Science-Kultur des 20. Jahrhunderts entstanden. Die Herausforderung in der Zukunft mag sein, neue vorhandene Leerräume zu erkunden und Methoden zu verbessern, wie Entscheidungen gefällt werden können, obwohl die Ausgangslage unbestimmt ist. Dies ist nur möglich durch eine Systematik, die die Grenzen einzelner Wissenschaften überschreitet. Ich möchte die Chancen der interdisziplinären Arbeit am Marsilius-Kolleg nutzen, um unser Projekt "Unbestimmtheit, Information und Entscheidung" mit A. Kemmerling weiter zu entwickeln. Ich habe dabei die zwei neuen Aspekte, Information und Entscheidung eingeführt, die der Untersuchung eine wichtige Perspektive geben. Diese Aspekte erweitern die semantische Fragestellung, was Unbestimmtheit ist, und erlauben, konkrete Methoden zu analysieren und konstruieren, wie mit Unbestimmtheit umzugehen ist.

 

Seitenbearbeiter: Geschäftsstelle
Letzte Änderung: 29.06.2011
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