Bereichsbild

Arbeitsvorhaben Prof. Dr. Thomas Meier

Untergangsszenarien der Wissenschaft als Reflektionen gesellschaftlicher Gegenwarten

 

Dieses Projekt versucht an Hand ausgewählter Disziplinen einen breiten Brückenschlag über die Wissenschaftskulturen. Es fragt nach den Formen und Bedingungen wissenschaftlicher Wissenskonstruktionen als Ausdruck gesellschaftlicher Diskussionen und Plausibilitätsmuster. Zugleich hinterfragt es Jürgen Mittelstraß' These von einer allen Wissenschaften zu Grunde liegenden  gemeinsamen Rationalität, die Vorbedingung gelingender Interdisziplinarität sei, und versucht, sie mit Leben zu füllen.

Als Querschnittsthema, das für eine Vielzahl von Disziplinen aus allen Wissenschaftskulturen anschlussfähig ist, soll diese Analyse am Beispiel der Untergangsnarrationen in verschiedenen Disziplinen durchgeführt werden. Unabhängig vom konkreten Gegenstand (z.B. Kulturen, Biotope, Sterne) reflektieren sie auf der Metaebene Diskussionen und gehorchen Plausibilitätsmustern der gesellschaftlichen Gegenwart.

  

Der Kollaps hat Konjunktur – sei es als Finanz- und Wirtschaftskrise an der Börse, sei es als öko-globaler Zukunftsentwurf auf Spitzenplätzen der Spiegel-Bestsellerliste. Gerade dieser internationale Kassenschlager des Biologen Jared Diamond (2005) zeigt zweierlei: Erstens findet die Perspektive auf den Untergang von Kulturen breitestes öffentliches Interesse, obgleich sie dickleibig, doch in klarer Sprache und einfacher Form daherkommt. Zweitens sind solche Untergangsnarrative keine alleinige Domäne der Kulturwissenschaften, sondern reichen von den historischen Disziplinen und Wirtschaftswissenschaften über die Soziologie und Psychologie bis zur Biologie und Astrophysik – ganz zu schweigen von Literatur und bildender Kunst. Kollaps und Untergang sind ein Brückenthema, das nicht nur die ganze Breite der akademischen Disziplinen und Wissenschaftskulturen miteinander verknüpft, sondern das transdisziplinär die Wissenschaft in die Gesellschaft einbindet.

 

Dieses Projekt will daher Untergangserzählungen der Wissenschaft(en) als inter- wie transdisziplinären Brückenschlag fruchtbar machen – nicht, indem es ein weiteres, wissenschaftlich objektiviertes Untergangsnarrativ hinzufügt, sondern indem es das wissenschaftliche Sprechen über den Untergang auf der Metaebene analysiert.

 

Ich gehe dabei von zwei Prämissen aus:

  1. Alles Wissen über die Welt ist ein konstruiertes, gleichermaßen ob es wissenschaftliches oder gesellschaftliches Wissen ist.
  2. Die wissenschaftliche Konstruktion von Wissen ist eingebettet in die Modi der gesellschaftlichen Wissenskonstruktionen (z.B. hinsichtlich der Plausibilitätsstrukturen oder der großen Narrative).

 

Die Analyse wissenschaftlicher Wissenskonstruktionen, an welchen Themen Wissen ausgerichtet, nach welchen Regeln es plausibilisiert wird, erlaubt damit Rückschlüsse auf grundlegende Kategorien der Weltwahrnehmung und Strukturen ihrer Ordnung. Wissenschaft als hochgradig rational bestimmtes, autopoietisches Teilsystem der Gesellschaft (Niklas Luhmann) kann hier gleichermaßen als Paradigma wie Extrem gesamtgesellschaftlicher Befindlichkeiten gelten. Paradigma, weil der Wissenschaftler als Mensch und Zeitgenosse eingebunden bleibt in die Ängste und Träume, Fragen und Nöte seiner Zeit wie in ihre Modi zu denken und zu kommunizieren. Wissenschaft ist insofern immer Reflex der aktuellen Gesellschaft und ihrer Themen. Als Extrem, weil die spezifischen Modi des wissenschaftlichen Teilsystems die Rationalisierung und Reflektion der eigenen Erkenntnisgrundlagen und ihrer Regeln weit über das gesellschaftlich übliche Maß hinaus treiben. Eine Analyse wissenschaftlicher Narration konzentriert sich insofern auf einen Spezialfall gesellschaftlicher Wissenskonstruktion, die aber durch ihre Rationalisierungen zugleich in der Gesamtgesellschaft nicht rationalisierte Wahrnehmungsprozesse auch verschleiern kann.

Das hier vorgeschlagene Projekt will an Hand der Untergangsnarrative in verschiedenen Wissenschaft(skultur)en solch eine Analyse durchführen. Angesichts der geradezu universalen Verbreitung dieses Narrativs wird es darauf ankommen, eine überschaubare Zahl von Disziplinen für die Untersuchung auszuwählen, die ein möglichst breites Spektrum an Wissenschaftskulturen abdecken. In meiner eigenen Disziplin, die Archäologie, war und ist der Untergang von Kulturen von Anbeginn zentraler Forschungsgegenstand (z.B. Altes Reich in Ägypten; Hethiter; Classic Maya; minoisches Kreta; Römisches Reich). Recht eng benachbart ist die Geschichtsforschung, die gerade in den letzten Jahren intensiv an Wirkung und Wahrnehmung von Krisen und Katastrophen arbeitet (z.B. Gerrit Schenk, Christian Pfister, Kay Peter Jankrift). Aus dem Spektrum weiterer Wissenschaftskulturen denke ich etwa an die Astrophysik oder Ökologie, die sich jeweils – wenn auch auf ganz unterschiedlichen Skalen des Universums, der Galaxien und Sterne, aber auch der Erde oder des einzelnen Biotops – mit dem Kollaps von Systemen befassen; ferner an naturwissenschaftlich-theoretische Überlegungen zur (In)Stabilität von Systemen oder auch an die Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie mit der Frage nach Gründen (in)stabiler persönlicher und gesellschaftlicher Bindungen.

 

In einem ersten Schritt wird es darum gehen, die spezifische Funktion und kulturelle Bewertung der Untergangsnarrative im jeweiligen disziplinären Kontext zu klären.

In einem zweiten, dezidiert wissenschaftshistorischen Schritt sollen diese disziplinären Spezifika in ihrer historischen Entwicklung zurückverfolgt und ihre geistesgeschichtliche Herkunft geklärt werden. Dabei geht es nicht nur um Inhalte und Konnotationen der Narrative, sondern spezifische Inhalte erfordern auch spezifische Plausibilitätsmuster und Argumentationsstrukturen. So wird beispielsweise ein theologisches Untergangsnarrativ anders argumentieren, als eine systemische Kollapserzählung. Inhalt und Argumentationsstruktur des Narrativs sind dabei eng aneinander gekoppelt und bedingen sich gegenseitig.

 

Im dritten Schritt ist daher danach zu fragen, wie Änderungen disziplinärer Narrative an gesellschaftliche Veränderungen gekoppelt sind – sei es, dass sie veränderte gesellschaftliche Themen und/oder Argumentationsmuster reflektieren, sei es, dass sie gesellschaftliche Themen vorwegnehmen oder abbilden.Erste Untersuchungen lassen für archäologische Untergangsnarrative verschiedenster Kulturen einerseits eine unmittelbare Reflektion aktueller gesellschaftlicher Debatten (z.B. Kalter Krieg, verschiedene Formen ökologischen Scheiterns) erkennen, andererseits einen steten Rekurs auf die Forschungsgeschichte, der ein Narrationsmuster im Einzelfall weit über „seine Zeit“ hinaus konservieren kann; für solche Phänomene der narrativen Versteinerung dürften wissenschaftssoziologische Momente verantwortlich sein, welche die Abkopplung einer Disziplin vom gesellschaftlichen Diskurs provozieren.

 

Lässt sich nun auch in anderen Disziplinen eine Abhängigkeit der wissenschaftlichen Untergangserzählungen von aktuellen gesellschaftlichen Debatten feststellen? Werden die gleichen oder unterschiedliche gesellschaftliche Debatten in verschiedenen Disziplinen reflektiert? Welche Debatten greifen die unterschiedlichen Disziplinen auf und wie reflektieren sie gesellschaftliche Veränderungen in den Vorstellungen von Plausibilität? Wann und wie finden solche Reflexe statt?

 

Ziel des Projekts ist nicht allein ein gesteigertes Bewusstsein der Wissenschaftskulturen für die historisch gewachsenen, gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Narrative und Argumentationsstrukturen im Rahmen einer abendländischen Denktradition. Darüber hinaus fragt es, inwieweit sich auf dieser epistemologischen Grundlage Plausibilitätsmuster herausarbeiten lassen, welche die verschiedenen Wissenschaftskulturen überspannen. Jürgen Mittelstraß hat solch einen Rekurs aller Wissenschaften auf eine gemeinsame Rationalität als Voraussetzung gelingender Interdisziplinarität formuliert, den es sowohl zu hinterfragen wie mit Leben zu füllen gelte. Zweifellos hat diese vermutete gemeinsame Rationalität im wissenschaftshistorischen Prozess mancherlei disziplinäre (De)Formierung erfahren, für die dieses Projekt Bewusstsein erzeugen und so zu ihrer Überwindung beitragen will.

 

Dass diese wissenschaftsimmanenten Prozesse gesellschaftliche Entwicklungen abbilden, verstehe ich zugleich als wesentliche und positive Verortung der Wissenschaft in der Gesellschaft.

Seitenbearbeiter: Geschäftsstelle
Letzte Änderung: 15.01.2014
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