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Vortrag

Brauchen alte und junge Menschen in Zukunft eine neue Identität?

Öffentlicher Vortrag im Rahmen der Marsilius-Frühlingsakademie 2015 „Jung und Alt. Zwei Lebensphasen unter Optimierungsdruck" / 22. - 28. März 2015

Prof. Dr. Franz Kolland, Institut für Soziologie, Universität Wien

 

Donnerstag, 26. März 2015, 19.30 Uhr

Alte Universität, Aula, Grabengasse 1, 69117 Heidelberg

 

Franz Kolland PressefotoVerstehen wir unter Identität das Erleben einer Einheit der eigenen Person, dann ergeben sich aus einer soziologischen Perspektive eine Reihe von Herausforderungen aufgrund des tiefgreifenden Wandels sozialer Institutionen und Wertvorstellungen im Zuge der Modernisierungsprozesse. Durch den Strukturwandel der Gesellschaft verlieren Vorstellungen an Aussagekraft, die Identität als etwas bestimmen, was ein Individuum unverwechselbar und klar von der Umwelt und anderen abgrenzt.

 

Die massiven qualitativen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, die sowohl die Jugend als auch das Alter erfasst haben, erbringen sowohl Chancen als auch Risiken. Differenzierung, Pluralisierung und Enttraditionalisierung setzen das Individuum zunehmend frei aus vertrauten Bindungen wie Klasse, Beruf, Kirche, Familie und Geschlechterverhältnisse. Identität kann und muss unter diesen Bedingungen sehr viel radikaler konstruiert und ständig modelliert werden, weil rahmende Institutionen an Bedeutung verlieren. Daraus entstehen Chancen für mehr Selbstbestimmung, aber auch Risiken des Scheiterns. Auf diese Risiken weist etwa Alain Ehrenberg hin, wenn er vom „erschöpften Selbst“ spricht. Deutlich gemacht werden soll damit, wie eng Identität mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängt. Jung und Alt brauchen eine neue Identität, die wir vor dem Zustand einer (Welt-)Risikogesellschaft als reflexive Identität benennen wollen.

 

Verstehen wir Identität als das Erleben einer Einheit, die eine zeitliche Konstanz aufweist, dann ergeben sich Herausforderungen aufgrund des demographischen Wandels. In Gesellschaften der Langlebigkeit, in der das Individuum von einer „sicheren Lebenszeit“ ausgehen kann, wie das Arthur Imhof formuliert hat, reicht die Konstanz und Erhaltung einer einmal gewonnenen Identität nicht aus, sondern verlangt ist lebenslanges Lernen. Das ist auch deshalb notwendig, weil das hohe Lebensalter ein Novum im Gesellschaftsgefüge darstellt und normativ unterbestimmt ist. Ob und inwieweit die Selbstgestaltung des Individuums über den Lebenslauf Phasen oder Stufen folgt, ist empirisch zu klären.

 

Vermutet wird, dass die sozialgeschichtlich konzeptualisierte sichere Lebenszeit für Jung und Alt je unterschiedliche Auswirkungen auf die Identitätsarbeit hat. Befinden sich die Jungen in einer Art Seinsvergessenheit, weil sie das Gefühl einer grenzenlosen Zeit haben, kann für die Alten die Identitätskonstitution als Auseinandersetzung mit einer begrenzten Zukunft verstanden werden. Deutlich gemacht werden soll über diese Diskussion die Verschränkung von Identität und Lebenslauf. Sowohl alte als auch junge Menschen brauchen eine neue Identität vor dem Hintergrund des langen Lebens. Als Annäherung könnte von einer temporalen Identität gesprochen werden.   

 

Ein dritter Zugang, der neu zu bestimmen ist, betrifft die generative Identität. Wie beschreibt Cicero die Beziehungen zwischen den Jungen und Alten in der römischen Antike in seiner Schrift „Cato der Ältere über das Greisenalter“? Es sind die jungen Männer, die die Staaten erschüttern, die alten hingegen, die sie aufrechterhalten und wiederherstellen. Wenn auch das Gedächtnis abnimmt, so hindert diese Veränderung nicht daran, die Jungen zu belehren. Nichts macht mehr Freude, als im Alter umringt zu sein von lernbegierigen jungen Leuten. Was kann wohl herrlicher sein, als eine solche Tätigkeit?

 

Die Geschichte von Cicero soll zeigen, dass Identität generational bestimmt und hergeleitet ist. Beziehungen zwischen Jung und Alt haben immer wieder die Literatur, die Wissenschaft und die Öffentlichkeit interessiert. Das Thema der Generationenbeziehungen ist gegenwärtig wieder relevant, weil tiefgreifende Wandlungen im Verhältnis der Generationen zueinander in den Bereichen Soziale Sicherheit, Pflege und Betreuung gegeben sind. Das Generationenthema ist gleichermaßen populär wie kontrovers. Besteht eine Kluft, ein Konflikt oder gar ein Kampf zwischen den Generationen? Oder haben wir es mit sozialer Gleichgültigkeit zu tun? Die Lebenswelten von Jung und Alt sind oft weit voneinander entfernt. Während viele Junge in einer Welt des technischen Fortschritts zu Hause sind und über weite räumliche Distanzen vernetzt sind, verbringen manche Alte ihre Zeit allein oder in Heimen – fernab vom Rest der Gesellschaft. Offen ist, wie die neuen Formen der je spezifischen generationalen Vergesellschaftung das Selbstverständnis jüngerer sowie älterer Menschen beeinflussen.

 

Wenn von Jung und Alt im Generationenzusammenhang gesprochen wird, dann ergeben sich verschiedene Überlegungen für die Frage der Identität. Da ist zunächst die Frage, ob von einer intra-generationalen Identität gesprochen werden kann. Jung und Alt, so die Generationenforschung, bestimmen seit den 1960er Jahren ihre Identität unter Bezugnahme auf die eigene Generation, die Gleichaltrigengruppe. Die Erosion dieser Verortung über das Web 2.0 verlangt eine neue Identitätskonstitution. Die zweite Frage betrifft die Identitätsarbeit in Hinsicht auf vorangegangene bzw. nachfolgende Generationen. Die generative Identität geht über die Identitätskonstitution im Rahmen des eigenen Lebenslaufs hinaus und ist dort besonders gefordert und neu zu bestimmen, wo traditionelle Lebensentwürfe in Richtung Familie und Nachkommen an Bedeutung verlieren.

 

Aus gerontologischer Perspektive ist für Jung und Alt ebenfalls eine neue Identität angezeigt. Diese braucht es, um stereotype Altersbilder und altersbezogene Vorurteile zu korrigieren. Sowohl eine Defizitperspektive als auch eine Aktivismusperspektive ist weder für Jung noch für Alt eine günstige Komponente in der Selbstkonstitution. Um Verfestigungen und Erstarrungen zu reduzieren, wird an dieser Stelle eine fluktuierende Identität als günstig eingeschätzt.

 

Zusammenfassend wird Identität im Sinne von Heiner Keupp als Arbeit und offener Prozess verstanden, der über den gesamten Lebenslauf andauert und das Potential der eigenen Lebensgestaltung aufgreift.

Seitenbearbeiter: Geschäftsstelle
Letzte Änderung: 20.03.2015
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