Bereichsbild

Teilprojekt Menschenwürde am Lebensanfang

 

Projektsprecher: Prof. Dr. Thomas Strowitzki (Medizin, Gynäkologie)

Beteiligt: M. Anderheiden (Jura), C. R. Bartram (Medizin, Humangenetik), M. Bobbert (Medizinethik), D. Dölling (Kriminologie), W. Härle (Theologie), T. Hillenkamp (Jura), A. Ho (Medizin, Hämatologie), H. Kiesel (Germanistik), A. Kruse (Gerontologie)

 

Die Bewertung von Entwicklungsstufen am Beginn menschlichen Lebens ist von fundamentaler Bedeutung für jede Gesellschaft, mit zahlreichen praktischen Implikationen. An zwei konkreten Beispielen, der Forschung mit embryonalen Stammzellen und der Spätabtreibung potentiell lebensfähiger Feten, sollen die Konsequenzen aus Unterschieden in der Bewertung von Menschenwürde am Lebensanfang verdeutlicht werden. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, ob ein Vergleich mit abgestuften Potentialen am Lebensende Parallelen in der Bewertung zulässt oder gerade den Blick für die jeweilige Sonderstellung beider Lebensphasen schärft.

A) Zur Frage der Abstufung der Menschenwürde am Lebensanfang und Lebensende

Zentrales Thema ist die Untersuchung, ob es Parallelitäten zwischen Lebensanfang und Lebensende gibt, und welche Konsequenzen sich hieraus für die Definition des Begriffes der Menschen­würde ergeben. Als Grundlage der weiteren interdisziplinären Betrachtung werden zunächst die medizinischen Fakten dargelegt, nämlich die embryonale Entwicklung extrakorporal und bis zum Ende des ersten Trimenons einschließlich wesentlicher neurophysiologischer Aspekte wie der Entwicklung der Empfindungsfähigkeit. Dies hat auch unmittelbare Konsequenz für die Reproduktionsmedizin im Rahmen der künstlichen Befruchtung. Zu spezifischen Pathologien der einzelnen Entwicklungsphasen (z.B. Anenzephalus, Entwicklung trophoblastärer Tumoren aus dem frühen totipotenten Embryo) werden Vergleiche mit medizinischen Situationen am Lebensende erarbeitet.

Parallel wird der Stand der Entwicklungspsychologie dargestellt. Im Zentrum stehen dabei Erkenntnisse zur pränatalen Entwicklung. Um Unterschiede zwischen Lebensanfang und Lebensende in einer möglichen Abstufung herauszuarbeiten, wird dem Kenntnisstand zur Entwicklung am Lebensanfang als neuer Ansatz die Frage gegenübergestellt, ob eine mögliche Abstufung am Lebensende, belegt durch Analyse empirisch erhobener Daten jenseits verbaler Kommunikationsfähigkeit, definierbar ist. Hier sollen vor allem Erkenntnisse aus der Demenzforschung berücksichtigt werden, um Antwort auf die Frage zu geben, ob bei Demenzerkrankungen in einem sehr späten Stadium „Rückentwicklungen“ erkennbar sind, die als gegenläufige Prozesse zu den „Entwicklungen“ in der pränatalen Entwicklungsphase verstanden werden können. Dabei ist der grundsätzliche Einwand zu diskutieren, dass auch bei Demenzerkrankungen in einem sehr späten Stadium von Einflüssen der Biografie auf Erleben und Verhalten des Individuums ausgegangen werden muss. Dies würde bedeuten, dass ein zentraler personaler Aspekt – nämlich das „gelebte Leben“ – fortwirkt, woraus sich grundlegende Konsequenzen für die Frage nach einer möglichen Abstufung am Lebensende ergeben.
Die so erarbeiteten Bewertungen sollen nach verfassungs-, straf- und zivilrechtlichen Kriterien reflektiert werden. Zentraler Fokus sind Beginn, Grad und Ende des rechtlichen Lebens- und Gesundheitsschutzes in den verschiedenen Phasen unter Berücksichtigung der Problematik normativer Wertungen empirischer Differenzen. Einbezogen werden soll der Abgleich deutscher Positionen mit Einstellungen und Entscheidungen im internationalen Vergleich.

B) Zur Problematik der Stammzellforschung

Die neuen Eingriffsmöglichkeiten in die Entstehung menschlichen Lebens in Verbindung mit dem Ziel der Entwicklung von Therapieansätzen für bisher unheilbare Krankheiten durch embryonale Stammzellforschung werfen grundlegende ethische und rechtliche Fragen über den Schutz des menschlichen Lebensanfangs auf. Sie erfordern nicht nur weitere medizinisch-biologische Exploration, sondern auch ethische, juristische und sozialwissenschaftliche Reflexionen, die den Schwerpunkt in diesem Projektteil bilden.

Gegenwärtig ist die Gewinnung embryonaler Stammzellen nur aus der Blastozyste unter Inkaufnahme des Absterbens des Embryos ein etabliertes Verfahren. Aus juristischer, theologischer und medizinischer Sicht begegnet dieses Vorgehen einerseits schweren Bedenken. Andererseits leiten sich die meisten der vom National Institute of Health, USA und der UK Stammzellbank etablierten embryonalen Stammzelllinien aus überzähligen Embryonen ab. Die damit erzielten Ergebnisse werden auch in Deutschland ausgewertet. Zur Begründung der Notwendigkeit embryonaler Stammzellforschung wird neuerdings auf Parallelforschung verwiesen. Sie scheint ein typisches Phänomen medizinischer Forschung. zu sein. Es ist wichtig zu untersuchen, welche Gründe es für Parallelforschung (adulte versus embryonale ES Zellen, Reprogrammierungsstrategien) in diesem sensiblen Bereich gibt und welche Formen sie annimmt. Dazu zählen offene Fragen nach angemessenen gesetzlichen Regelungen, nach den faktischen Wechselwirkungen zwischen beiden Forschungsansätzen und nach Ergebnissen, die erst den Fortschritt der anderen Richtung ermöglichen, wie etwa die durch Einschleusung von vier „Verjüngungsgenen“ gewonnenen  Stammzellen aus Körperzellen (Hautzellen), die ähnliche, pluripotente Eigenschaften aufweisen wie embryonale Stammzellen.

Eine weitere Zielsetzung dieses Teilprojekts ist die Verbesserung des kontinuierlichen Informations- und Wissenstransfers zur Stammzellforschung und ihrer ethischen Bewertung in Schulen und Öffentlichkeit. Bisher werden Umfragen zur Stammzellforschung und zu anderen medizinethischen Fragen häufig in ihrem Ergebnis vom geringen Kenntnisstand der Be­fragten beeinflusst. Zur Verwirklichung des Ziels sollen Module der Kommunikation entwickelt werden in Form von geeigneten Printmedien, Internetkommunikation, Fortbildungsveranstaltungen oder Seminaren. Dabei kann auf die Erfahrungen des von der Bosch-Stiftung finanzierten erfolgreichen Schulprojektes des IFBK aufgebaut werden.

C) Spätabtreibung

Im Blickpunkt steht die medizinethische und juristische Bewertung der Problematik des indu­zierten Spätaborts (ab 22. Woche p. c.) vor dem Hinter­grund der aktuell diskutierten Geset­zeslage.

Es sollen die derzeit genannten medizinischen Indikationen dargestellt und unter dem Krankheitsbegriff analysiert werden. Dafür zu erarbeitende medizinische Grundlagen sind die Definition der Lebensfähigkeit, die Bewertung der indikationsgebenden Krankheitsbilder und die aktuellen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik mit daraus ableitbaren medizinischen Konsequenzen. Hier fließt auch die Frage ein, welche Entscheidungssituationen für Schwangere aus der Pränataldiagnostik entstehen können. Der Spätabbruch wird auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz der gelten­den Regelung insbesondere bei Gruppierungen wie Kirchen und Behindertenverbände betrachtet.

Zentrale ethische Frage ist bei rechtlicher Erlaubnis des Spätabbruchs der Beratungsbegriff. Bei einem Spätabbruch ist derzeit lediglich eine Aufklärung über den medizinischen Eingriff gefordert. Dass für die schwangere Frau eine psychosoziale Beratung hilfreich sein könnte, ist Konsens. Weil dem Spätabbruch oft eine genetische Pränataldiagnostik vorausgeht, ist nach der adäquaten zeitlichen Ansiedelung der Beratungskonzepte zu fragen. Die erforderlichen Kompetenzen der Berater und ihre Finanzierung sind strittig. Ebenso, ob es sich um eine freiwillige oder eine Pflichtberatung handeln sollte. Die gegensätzlichen Aspekte von Beratungspflicht versus Freiwilligkeit sollen unter ethischen Gesichtspunkten analysiert, die mit der Beratung nach § 219 StGB ge­machten Erfahrungen dabei einbezogen werden. Das Selbst­bestimmungsrecht der Schwangeren, der Schutz des Fötus, die Pflichten des Arztes und der Einfluss gesellschaftlicher und sozialpolitischer Rahmenbedingungen werden im Hinblick auf verschiedene Beratungsmodelle diskutiert. Literarische Reflexionen von geplanten oder aus­geführten Schwangerschaftsabbrüchen sollen zur Blickverschärfung herangezogen werden.
Unter den Spätabbrüchen ist vor allem der embryopathisch motivierte problematisch. Deutlicher als bei der rein medizinischen berührt die medizinisch-soziale Indikation, unter die der embryopathisch motivierte Fetozid fällt, Menschenwürde und Lebens­recht des bereits lebensfähigen Feten. Die verfassungsrechtliche Legitimität nicht in Kauf genommener, sondern ge­zielter Tötung von (behindertem) Leben ist zweifelhaft und erörterungsbedürftig. De lege lata sollen die für die ärztliche Entscheidung vor allem relevanten Begriffe des (durch das behinderte Leben bedrohten) "Gesundheitszustandes" der Schwangeren, die Einräumung eines "ärztlichen Beurteilungsspielraums" geklärt, zudem die in der Praxis vielfach offen gegen den Gesetzestext her­gestellte Relation zwischen Behinderungsgrad und Indikation thematisiert werden. De lege ferenda sind die Stellung zu einer embryopathischen Indikation, eine Fristenbindung , Beratungsformen und ärztliche Mitwirkungspflicht zu diskutieren. Standesethik und juristische Rechtfertigung sind nach Möglichkeit auf dem Hintergrund der Grenzen gesellschaftlicher Akzeptanz zur Konkordanz zu führen.

 


Seitenbearbeiter: Geschäftsstelle
Letzte Änderung: 23.05.2018