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Fellow-Klasse 2009/10Prof. Dr. Bernd Schneidmüller

Arbeitsvorhaben am Marsilius-Kolleg

Ordnungsentwürfe - Weltdeutungen - Lebenserfahrungen. Modernes Mittelalter aus transdisziplinären Erfahrungen

Am Anfang dieser Bewerbung stand ein disziplinäres Buchprojekt. Der Impuls ging vom Verlag C. H. Beck aus, der den Antragsteller um eine Europäische Geschichte des Spätmittelalters bat. Für eine solche Synthese gibt es nur wenige Vorbilder in deutscher Sprache; die englische oder französische Forschung bewältigte das Thema vor allem in ausgreifenden Sammelbandsynthesen. Der aktuelle kulturwissenschaftliche Forschungsstand lässt eine additive Bewältigung aus den vorhandenen Nationalgeschichten nicht mehr zu. Vielmehr sind innovative Kompositionsmuster zu entwickeln, welche die Pfade traditioneller Geschichtsschreibung überschreiten. Der Antragsteller will sie nicht allein aus bloßer disziplinärer Wissensakkumulation, sondern in einem transdisziplinären Austausch mit Wissenskulturen jenseits der klassischen Geschichts- und Geisteswissenschaften erarbeiten. Er nennt in dieser Skizze darum nur knapp die disziplinären Herausforderungen aus Forschungsgeschichte oder historischer Überlieferung, um Hoffnungen auf eine transdisziplinäre Kommunikationssituation im MK zu artikulieren, die er nach ersten Erfahrungen an der Universität Heidelberg im Kontakt über die Fächerkulturen hinweg erwartet. Im Vordergrund des Projekts stehen dabei weniger die klassischen Felder von Politik und Gesellschaft, sondern die Macht der Wissenswelten und wandelnde Deutungsmuster von Ordnung, Welt und Leben in ihren perspektivischen Bedingtheiten.

 

1) Professionalisierung:


Die europäische Wissenskultur entwickelte seit der Scholastik neue Methoden und neue habituelle Muster in der Bewältigung, Deutung und Erforschung komplexer Phänomene. Der Gelehrte wurde seit dem Hoch- und Spätmittelalter zur Chiffre für eine Welt, in der Wissen allmählich zur Macht erwuchs, auch wenn vormoderne Professionalisierungen in klaren funktionalen Zuordnungen zu den Sphären von Religion und Politik verharrten. Das 13. Jahrhundert unternahm verzweifelte Versuche, die Gesamtheit des überkommenen Wissens noch
einmal enzyklopädisch in immer dickeren Büchern zu bündeln. Das Projekt einer Erfassung der Einheit alles Wissens scheiterte damals und machte zunehmenden Spezialisierungen wie Disziplinierungen in Fakultäten Platz. Schon die spätmittelalterliche Weltdeutung rieb sich an verstörenden Erfahrungen, als Europäer bei ihren Grenzüberschreitungen gänzlich Unerwartetem begegneten. Das Studium dieser Inklusions- und Exklusionsvorgänge stellt Fragen,


- wie das traditionale Gedächtniswissen Fremdes und Neues integrierte
- wie aus bloßem Gedächtniswissen Veränderungen und Innovationen erwachsen konnten
- welche Stadien der Penetration neues Elitenwissen zum verbreiteten Schulwissen durchlief.


Im Wissen um den Anachronismusverdacht benötigt der Historiker längst vergangener Zeiten für die Kategorisierung des historischen Wissenswandels aktuelle Erfahrungen von systemischem und evolutionärem bzw. revolutionärem "Fortschritt" in den Natur- und Lebenswissenschaften.

 

2) Deutungen des Ganzen und seiner Teile:


Die europäische Wissenskultur fußte im Spätmittelalter auf dem antik-biblischen Modell einer heilsgeschichtlich geordneten ganzen Welt und ihrer Teile. Die Konstruktionen dreier Kontinente (Asien, Europa, Afrika) und eines Geschichtsverlaufs von Ost nach West stehen in Konkurrenz zu älteren außereuropäischen Weltdeutungen, die bisher noch nicht systematisch in den Blick getreten sind. Eine vergleichende Betrachtung ist nötig, um spezifische Axiome Europas oder des Europäischen in ihrer Zeitgebundenheit zu dekonstruieren und gleichzeitig ihre Wirkkraft bis zur Gegenwart zu erklären:


- Europa als Teil der ganzen Welt in der mittelalterlichen Deutungsgeschichte
- Stilisierung Europas als Herrscherin der Welt beim europäischen Ausgriff auf andere Kontinente im 15. und 16. Jahrhundert
- Europa als Kriegergesellschaft (im Gegensatz zu Asien als dem Kontinent der Freien und zu Afrika als dem Kontinent der Sklaven)
- Verwestlichung als größtmöglicher Fortschritt der Weltgeschichte (12. Jh.)
- Identifikation von Europa und Christentum/Hochkultur (15. Jh.)


Solche Images von der ganzen Welt und ihren Teilen korrespondierten im Spätmittelalter mit konkurrierenden Deutungen politischer Ordnung. Modelle einer imperialen Weltordnung griffen auf Ideen römischer Weltherrschaft in der Antike zurück und luden das römische Kaisertum des Mittelalters mit der heilsgeschichtlichen Sinnstiftung einer Weltmonarchie auf. Dagegen bildeten die spätmittelalterlichen Monarchien das Bewusstsein faktischer Selbständigkeit und die theoretisch fundierte Lehre einer ebenfalls heilsnotwendigen Pluralität der Völker und Nationen aus. In der Synchronie formte diese Konkurrenz von integrierender Einheit und desintegrierender
Vielfalt ein stabiles und über die Jahrhunderte tragfähiges System differenter politischer Theorien aus. In der Diachronie sollten Anspruch und Lebenswirklichkeit mittelalterlicher Imperien mit den Zyklen der Weltreiche von der Antike bis ins 21. Jahrhundert verglichen werden.

Die eher traditionelle Erforschung europäischer Geschichte zwischen imperialen Ansprüchen und nationalen Selbstvergewisserungen soll durch die Erfahrung distinkter Ordnungsmodelle vom Ganzen und seinen Teilen aus anderen Disziplinen jenseits der Gesellschaftswissenschaften neue Impulse erhalten. Besondere Hoffnungen werden aus rezenten Erfahrungen in der Auflösung älterer linearer Teleologien zugunsten von Alteritäten in Integrations- und Desintegrationsprozessen geschöpft, wie sie im DFG-Schwerpunktprogramm 1173 erstmals hypothetisch formuliert wurden. Wenn sich der Historiker vom Korsett konsequenter Linearität wie Kausalität lösen will, benötigt er den Anstoß sogenannter exakter Wissenschaften und ihrer Erfahrungen mit Unschärfen und Deutungssprüngen.

 

3) Lebensentwürfe


In der modernen Geschichtswissenschaft rückt nach langer Dominanz der Sozial- und der Strukturgeschichte der Mensch mit seinen jeweiligen sozialen, kulturellen und kognitiven Fähigkeiten zur Konstruktion von Welt und Leben wieder ins Zentrum. Diese "anthropologische Wende" orientiert sich ganz wesentlich an kulturellen Dimensionen, verharrt also - wenn auch mit methodischer Wendung - in vertrauten Deutungs- und Beschreibungsmustern der Kulturwissenschaften. Man wird aus einer einjährigen Arbeit im MK nicht gleich eine völlige Veränderung vertrauter Zugänge in Felder von Wirtschaft, Hirnforschung oder Medizin erwarten, wohl aber eine Sensibilisierung und eine Ermutigung für das Überschreiten kulturwissenschaftlicher Barrieren. Nur so sind Lebensformen und Lebensentwürfe des Spätmittelalters aus neuen Perspektiven zu erfassen, die hier nur exemplarisch genannt werden:


- Elementare Katastrophen und ihre Deutung aus dem zeitspezifischen Wissensgefüge (Pest, Klimaveränderung, Erdbeben)
- Fähigkeiten zur Entwicklung neuer Technologien aus ökonomischen, sozialen wie kommunikativen Herausforderungen (Bergbau, Hüttentechnik, Papierherstellung, Buchdruck)
- Nutzung der Kognitionswissenschaften und ihrer Unterscheidung des impliziten und expliziten Gedächtnisses zur Beschreibung elementarer menschlicher Grenzüberschreitungen.

 

Hoffnungen: Ich fasse meine Hoffnungen für eine Mitarbeit im MK zusammen: Im Verlauf eines Jahres werde ich mich nicht zum Spezialisten in anderen Wissenschaftskulturen entwickeln. Die Überschreitung gängiger Diskussionsgrenzen und die Herausforderung zum Diskurs über meine Kompetenzgrenzen hinweg sollen mich aber zu neuen Zugängen auf ein ursprünglich disziplinär geplantes Syntheseprojekt befähigen. Es wird nach einem Jahr außerhalb des Historischen Seminars anders realisiert werden können als bei einem bloßen Verharren in historischen oder geisteswissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen. Als Akteur möchte ich mich in das MK einbringen mit Beiträgen zur Professionalisierung der Wissenschaften in historischen Perspektiven, zur kulturellen Abhängigkeit von Weltdeutungen wie Ordnungskonfigurationen und zur Alterität vergangener Lebensentwürfe.

Porträt Bernd Schneidmüller Fellow 2009/10

FORSCHUNGSGEBIETE

  • Geschichte des europäischen Mittelalters
  • vergleichende Mittelalterforschung
  • Konfigurationen gelebter und gedachter Ordnung

Lebenslauf

  • Schulausbildung: 1972 Abitur in Büdingen/Hessen
  • Studium:

    1977 Graecum in Frankfurt/Main
    1972-1976 Geschichte, Germanistik, Ev. Theologie, Rechtsgeschichte an den Universitäten Zürich und Frankfurt/Main
    1976 Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien
    1977 Promotion zum Dr. phil. (Frankfurt/Main)
    1985 Habilitation (Braunschweig)  Laufbahn: Assistentenzeit in Frankfurt und Braunschweig
    1987 Fiebiger-Professur Oldenburg 

  • Lehrstühle in

    Braunschweig (1990-1994)
    Bamberg (1994-2003)
    und Heidelberg (seit 2003) 

  • Funktionen/Gutachtertätigkeit:

    Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Historischen Instituts Paris; Stiftungsrat der Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland; Fachgutachter der DFG (1996-2004); Stellvertretender Sprecher des Fachkollegiums Geschichtswissenschaften der DFG (2008-2012)

Ausgewählte Publikationen

Tabelle

Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, hg. von Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/Annette Seitz, Berlin 2008.
Die Kaiser des Mittelalters. Von Karl dem Großen bis Maximilian I. (Beck´sche Reihe 2398), München 2006. 2. Aufl. 2007.
Heilig - Römisch - Deutsch. Das Reich im mittelalterlichen Europa, hg. von Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter, Dresden 2006.
Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter, Ostfildern 2006.
Konfrontation der Kulturen? Saladin und die Kreuzfahrer., hg. von Heinz Gaube/Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter, Mainz 2005.
Konsens - Territorialisierung - Eigennutz. Vom Umgang mit spätmittelalterlicher Geschichte, in: Frühmittelalterliche Studien 39, 2005, 225-246.
Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53, 2005, 485-500.
Europäische Erinnerungsorte im Mittelalter, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 3, 2002, 93-58.
Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter., in : Reich, Regionen und Europa im Mittelalter und Neuzeit, Berlin 2000, 53-87.
Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas. Konvergenz und Differenzierung, in: "Europäische Geschichte" als historiographisches Problem, hg. von Heinz Duchhardt/Andreas Kunz, Mainz 1997, 5-24.

KONTAKT

Prof. Dr. Bernd Schneidmüller

Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
E-Mail: bernd.schneidmueller@zegk.uni-heidelberg.de