icon-symbol-logout-darkest-grey

Fellow-Klasse 2009/10Prof. Dr. Andreas Kemmerling

Arbeitsvorhaben am Marsilius-Kolleg

Objektive Unbestimmtheit und rationaler Umgang mit ihr

 
Zunächst schildere ich kurz, warum objektive Unbestimmtheit (im folgenden: OU) sich seit ca. 30 Jahren als ein Problem oberster Ordnung für die theoretische Philosophie erwiesen hat. Anschließend erläutere ich drei Fragen, die mich seit einiger Zeit brennend interessieren, zu denen es aber, soweit ich sehe, keinen etablierten Forschungsstand gibt. Allein auf sich gestellte philosophische Forschung kommt hier nicht weiter; es bedarf der Kompetenz von -und Kooperationen mit- Wissenschaftlern anderer Disziplinen.

Eine Ausage nenne ich objektiv unbestimmt, wenn selbst unter optimalen Informationsbedingungen unentscheidbar ist, ob sie wahr ist. Unscharfe Begriffe liefern besonders einfache Beispiele für OU. Ein altbekanntes Beispiel: Selbst wenn jederlei potentiell relevante Information über eine gewisse Ansammlung von Sandkörnern gegeben ist (Anzahl, Anordnung usw.), kann der Fall auftreten, dass es rational unentscheidbar ist, ob die betreffende Ansammlung ein Sandhaufen ist. Das heißt: der Begriff des Sandhaufens ist unscharf oder "vage" - wie fast alle Begriffe der Umgangssprache, aber auch der meisten Wissenschaften.

Vagheit liefert aber nur *ein* Beispiel für OU. OU ist jedoch prinzipiell selbst in den strengsten Wissenschaften möglich. (Es könnte mathematische Aussagen geben, für die sich *beweisen* läßt, daß weder sie noch ihre Negation beweisbar sind.)
Wie tief die dadurch aufgeworfenen Probleme sind, zeigt sich auch daran, daß der Wahrheitsbegriff selbst dadurch in Mitleidenschaft gezogen zu werden scheint: Muß neben Wahr und Falsch noch ein weiterer Wahrheitswert anerkannt werden? Oder sollte die von allen großen Logikern seit Aristoteles als fundamental betrachtete Ungradierbarkeit von Wahrheit preisgegeben werden?

OU ist für den Philosophen u.a. deshalb ein so beißendes Problem, weil keine systematische Theorie für den logisch fundierten Umgang mit ihr zur Verfügung steht. In der Mitte der 70er Jahre gab es einen explosionsartigen Anstieg von Publikationen zur OU in der Logik und formalen Semantik. Eine Reihe höchst unterschiedlicher Lösungsansätze wurden vorgeschlagen und beständig weiter verfeinert - oder als denitiv unbrauchbar erwiesen. Seit meiner Doktorandenzeit habe ich verfolgt, wie der zunächst große Optimismus allmählich zerkrümelte. Die Probleme einer systematischen "Logik des Unbestimmten" entpuppten sich zunehmend als noch abgründiger, als man dies zunächst angenommen hatte. Einen mächtigen Schub erhielt die Beschäftigung mit dieser Problematik noch einmal im Jahre 1994, als T. Williamson alle bis dato verfügbaren Lösungsansätze einer vernichtenden Kritik unterzog, und eine aberwitzige Lösung vorschlug, die mit guten Gründen auf fast einhellige Ablehnung stieß. Seit etwa 15 Jahren arbeiten nun immer mehr der besten in der theoretischen Philosophie verfügbaren Köpfe weltweit, man kann schon fast sagen: "wie besessen", an dieser Problematik - bisher mit dem Ergebnis, daß sich Defätismus, ja fast schon Verzweiflung, breitmacht.

Der Forschungsbefund, nach drei Jahrzehnten intensiver Beschäftigung und angesichts einer kaum noch zu überblickenden Menge an Publikationen, läßt sich so zusammenfassen: Es ist *kein einziger* leidlich überzeugender logischer Basisrahmen für den rationaler Umgang mit OU in Sicht. Andererseits scheint klar, daß es rationale Arten des Umgangs mit ihr gibt. - Vor diesem Hintergrund läßt sich mein Arbeitsvorhaben durch drei Fragen charakterisieren, die ich jeweils kurz erläutern werde.

(1) Was ist das letztlich Besondere an OU? Wie unterscheidet sie sich von andern Formen epistemischer Unbestimmtheit?

Zur Erläuterung: Im Laufe der letzten Jahre bin ich bei der Beschäftigung mit der gerade skizzierten Forschungsentwicklung zu der Überzeugung gelangt, es könne lohnend sein, zunächst einmal das Phänomen der OU selbst genauer zu isolieren, bevor man Lösungsansätze dafür entwickelt. Oft wird als selbstverständlich unterstellt, man wisse schon hinreichend genau, worin sie eigentlich besteht. - Ein Teil meines Arbeitsvorhabens ist es, den Kern *objektiver* Unbestimmtheit dadurch herauszuarbeiten, daß ich sie mit andern Unbestimmtheitsphänomenen konstratiere. Als Beispiele für solche andern Phänomene seien genannt: Unsicherheit über den Wahrheitswert; allerlei andere Formen subjektiver Unbestimmtheit, die durch Informationszuwachs beseitigbar sind; rationale Unbehauptbarkeit; Paradoxikalität; empirische Unüberprüfbarkeit; Grenzen der Meßgenauigkeit; verborgene Parameter; semantische Unvollständigkeit; und die sog. *Unter*bestimmtheit aller empirischen Theorien durch ihre Daten.

(2) Wie gelingt es in Wissenschaft (Physik) und dem wirklichen Leben' (Rechtssprechung), rational mit OU umzugehen? Wo lassen sich Strategien zu einem rationalen Umgang mit OU finden? Haben sich in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Strategien herausgebildet? Zur Erläuterung: In vielen Fällen mag eine dezisionistische Sprachregelung durchaus rational sein. Wenn es etwa darum geht, eine bestehende Unbestimmtheit im Begriff "Plane" zu beseitigen, dann reicht es aus, irgendeine der konkurrierenden vertretbaren Präzisierungen zu wählen. Nichts Wesentliches hängt daran, wo genau die Grenze gezogen wird. Dezisionismus verliert jedoch in dem Maße an rationaler Akzeptabilität, in dem die Grenzziehung wichtige Konsequenzen nach sich zieht.

Je theoretischer der Zusammenhang, in dem man mit OU konfrontiert wird, desto näher liegt es, sie achselzuckend zu konstatieren, auszublenden oder dezisionistisch zu beseitigen. Wenn ich meine Informanten aus der Physik richtig verstehe, wird die Determinismus/Indeterminismus-Unbestimmtheit hinsichtlich des Mikrokosmos entweder achselzuckend konstatiert oder ignoriert.

Doch OU-Phänomene treten auch in juristischen, medizinischen und vielen andern Bereichen auf, in denen ein dezisionistischer Umgang mit ihnen sozial inakzeptabel wäre. Vom Juristen z.B. wird eine rationale Entscheidung mit nachvollziehbaren Gründen (das "Willkürverbot"!) verlangt - auch da, wo die Gesetzeslage in Anwendung auf einen konkreten Fall zu OU führt. Daÿ es in der Praxis häug gelingt, dieser Forderung zu entsprechen, ist in meinen Augen ein höchst faszinierendes Faktum. Es gibt, wie's scheint, gut entwickelte Praktiken des rationalen Umgangs mit Unbestimmtheit; und ich möchte mit Hilfe kompetenter Vertreter anderer Disziplinen versuchen, besser zu verstehen, wie sie funktionieren.

(3) Gibt es Kriterien für das Vorliegen von Normalbedingungen?
Zur Erläuterung: Im Laufe meiner Arbeit im Bereich der Philosophie des Geistes bin ich in den vergangenen zehn Jahren zu der Vermutung gelangt, daÿ der Materie/Geist-Problematik eine fundamentale methodologische Asymmetrie zugrundeliegt: Für das naturwissenschaftliche Arbeiten ist es kennzeichnend, letztlich *ausnahmslose* Gesetze anzustreben.. Ceteris-paribus-Gesetze sind, gemäß dem methodologischen Ideal der Naturwissenschaften, also nur temporäre Notbehelfe. Den gesetzesartigen Charakterisierungen geistiger Phänomene ist hingegen *wesentlich* (prinzipiell unbeseitigbar) eine Einschränkung des Typs "unter Normalbedingungen gilt" zueigen.

Was sind nun Normalbedingungen? Rationaler Rekurs auf sie darf keine bloße Immunisierungsmaßnahme sein. Folglich muß eine Unterscheidung machbar sein zwischen Fällen, in denen Normalbedingungen erfüllt sind, und solchen, in denen sie es nicht sind. Eine positive Charakterisierung von Normalbedingungen (etwa mit Hilfe einer endlichen Liste) ist unmöglich. - Auch hier scheint mir eine Form von Unbestimmtheit vorzuliegen, und ich möchte gerne (besonders durch Kontakt mit Fachleuten naturwissenschaftlicher Disziplinen) genauere Kenntis darüber erlangen, welche Kriterien in der Praxis zur Anwendung gebracht werden, wenn zu beurteilen ist, ob in einem konkreten Fall (z.B. in einem Experiment) Normalbedingungen vorlagen oder nicht.

Porträt Andreas Kemmerling Fellow 2009/10

FORSCHUNGSGEBIETE

  • Theoretische Philosophie (systematisch): Philosophie des Geistes, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Metaphysik
  • Theoretische Philosophie (historisch): die Entwicklung repräsentationalistischer Konzeptionen des Denkens vom Rationalismus und Empirismus des 17. Jh. bis heute

Lebenslauf

  • ab 1968 Studium der Philosophie (Logik und Wissenschaftstheorie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft) in Marburg, Frankfurt und München
  • 1972 M.A. (LMU München)
  • 1973-1975 Mitarbeit in einem Forschungsprojekt der Werner-Reimers-Stiftung über die Beziehungen zwischen Fachsprachen und Umgangssprache
  • 1976 Dr. phil. (LMU München)
  • 1976-1978 Forschungsprojekt der DFG über methodologische Fragen der Linguistik
  • 1978-1981 Wiss. Angestellter und Lehrbeauftragter (Bielefeld) 
  • 1981 Habilitation (Bielefeld)
  • 1982 Gastprofessor für Philosophie (USC Los Angeles), Professur fär Philosophie (Bielefeld)
  • 1983-1999 Professur für Analytische Philosophie (LMU München)
  • 1990 Fellow am ZiF (Bielefeld), Forschergruppe „Mind and Brain“
  • seit 1999 Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg

Ausgewählte Publikationen

Tabelle

Utterer´s Meaning Revisited, in: R. Grandy/R. Warner (eds.), Philosophical Grounds of Rationality: Intentions, Categories, Ends, Oxford 1986, 131-155.
The Visual Room, in: H.-J. Glock/R. Arrington (eds.), Wittgenstein´s Philosophical Investigations - Text and Context, London and New York 1991, 150-174.
The Philosophical Signicance of a Shared Language, in: R. Stoecker (Hrsg.), Reecting Davidson - Donald Davidson Responding to an International Forum of Philosophers, Berlin/New York 1993, 85-116.
How Self-Knowledge Can´t be Naturalized (Some Remarks on a Proposal by Dretske), Philosophical Studies 95 (1999), 311-328.
Gricy Actions, in: G. Cosenza (ed.), Paul Grice's Heritage, Brepols 2001, 69-95
Belief ascription: Objective sentences and soft facts, Facta Philosophica 5 (2003), 203-222
Freges Begriffslehre, ohne ihr angebliches Paradox, in: M. Siebel/M. Textor (Hrsg.), Semantik und Ontologie - Beiträge zur philosophischen Forschung, Frankfurt a..M. und Lancaster 2004, 39-62
Ideen des Ichs - Studien zu Descartes' Philosophie, 244 S., 2 Frankfurt a.M. 2005, KlostermannSeminar, Band 15
Kripke's Principle of Disquotation and the Epistemology of Belief Ascription, Facta Philosophica 8 (2006), 119 - 143
"The property of being red" - On Frank Jackson's Opacity Puzzle and his new theory of the content of colour-experience, Erkenntnis 66 (2007), 187 - 202

KONTAKT

Prof. Dr. andreas kemmerling

Philosophisches Seminar
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
E-Mail: sak@uni-hd.de